HOME  ☆ KERNKRAFT  ☆ WESTERN  ☆ IMPERIALISMUS  ☆ INDIANER  ☆ MEER  ☆ LANDESSTREIK  ☆ KONTAKT 

Generalstreik 1918

80 Jahre Landesstreik
1998 feiert auch die "Andere Schweiz"

Ein interessanter Text zum Landesstreik von 1918, geschrieben 80 Jahre danach.  Danke Bea! 

200 Jahre Helvetik, 150 Jahre Bundesstaat (und damit die Gründung der bürgerlichen Schweiz), 350 Jahre Westfälischer Frieden, die Schweiz feiert sich selber und uns wird es nur schon vom Zusehen schlecht! Doch eigentlich wäre da ja auch noch ein "Jubiläum" für die andere Schweiz.

Vor 80 Jahren, vom 9. - 14. November 1918 hat ein (fast) landesweiter Generalstreik stattgefunden, der zwar vorerst in einer Niederlage für die ArbeiterInnen-Bewegung enden, aber dennoch den Beginn einiger wichtiger Veränderungen markieren sollte.

1918 war das Ende des Ersten Weltkrieges. 24'000 Menschen waren während einer grossen Epidemie bereits an der Grippe gestorben. Während sich einige wenige während des Krieges eine goldene Nase verdient hatten, ging es dem Rest der Bevölkerung, vor allem in den Städten, ziemlich schlecht. Die Löhne waren in den Kriegsjahren um 30 % gesunken, die Lebensmittelpreise hatten sich vervielfacht. Hatte ein Kilo Brot bei Kriegsbeginn noch 35 Rappen gekostet, waren es jetzt über 70 Rappen, mehr als viele ArbeiterInnen in der Stunde verdienten. Die herrschende Wohnungsnot zwang zahllose Familien in die Obdachlosigkeit.

Die russische Revolution ein Jahr zuvor hatte in Teilen der europäischen Linken, so auch in der schweizerischen ArbeiterInnenbewegung, die Hoffnung geweckt, die proletarische Weltrevolution werde auch Mitteleuropa erfassen und die kapitalistische Ordnung stürzen (von bürgerlicher Seite sollte denn später auch hartnäckig behauptet werden, der Generalstreik sei von aussen, von russischen Revolutionären geplant und finanziert worden). Als der Bundesrat sämtliche Personen zwischen 14 und 60 mittels Einführung eines Zivildienstes zu vier Wochen Zwangsarbeit verpflichten wollte ( zwecks Steigerung der Produktion), drohte das Fass bei der ohnehin schon verärgerten Bevölkerung zu überlaufen.

Der Berner SP-Nationalrat Robert Grimm gründete deshalb als Reaktion auf die bundesrätliche Forderung zusammen mit anderen SP- und GewerkschaftsvertreterInnen das Oltener Aktionskomitee, das ein paar Monate später den Generalstreik organisieren sollte.

Die Idee für einen Generalstreik lieferte ausgerechnet das Zürcher Bankpersonal! Es hatte Ende September zur Durchsetzung besserer Löhne und der Anerkennung seiner Gewerkschaft in Zürich einen zweitägigen Generalstreik ausgelöst und damit die Banken erfolgreich in die Knie gezwungen. Alarmiert durch diese Aktion und aus Angst vor Ausschreitungen am ersten Jahrestag der bolschewistischen Revolution in Russland, ersuchte die Zürcher Regierung den Bundesrat um Truppen zum Schutze der Stadt.

General Wille erklärte sich sofort bereit, die ganze Kavallerie sowie vier Infanterieregimente nach Zürich zu schicken. Der Bundesrat aber befürchtete Dienstverweigerungen in der ohnehin schon von der Grippe geschwächten Armee und wollte vorderhand noch zuwarten. Aufgrund wildester Gerüchte über revolutionäre Putschpläne und aus Furcht vor neuen Streiks, entschied er sich am 5. November jedoch trotzdem dafür, Truppen nach Zürich zu senden, vor allem Soldaten aus den Kantonen Aargau, Luzern und Thurgau. Während an anderen bestreikten Orten die Armee eher zurückhaltend auftrat, liess der Zürcher Kommandant, Oberstdivisionär Sonderegger, ein Scharfmacher übelster Sorte (später bezeichnenderweise ein Mitläufer der faschistischen Fröntler) seine Männer provokativ durch die Stadt marschieren.

Das Oltener Komitee wurde durch das massive Militäraufgebot völlig überrascht. Es hatte eigentlich gehofft, die Streikandrohung würde reichen und ein Streik nicht wirklich nötig sein, durch die unglaubliche Militärpräsenz und durch den Druck seiner eigenen Basis wurde es nun jedoch dazu gezwungen, zu reagieren. Für den Samstag, 9. November (der Samstag war damals ein ganz normaler Arbeitstag) rief es deshalb einen 24stündigen Proteststreik in den 19 grossen Industrieorten der Schweiz aus. Bei den Kundgebungen in Bern, Basel, Olten und Winterthur blieb alles friedlich. Zürich hingegen war eine vom Militär besetzte Stadt. Es fielen Schüsse. Auf dem Paradeplatz wurden Maschinengewehre in Stellung gebracht. Der Verkehr brach vollkommen zusammen. Die Trams waren anfangs noch von Soldaten eskortiert worden, bevor sie ihre Fahrten ganz einstellten. Die ArbeiterInnen in Zürich, die sich von Anfang an für einen längeren Streik ausgesprochen hatten, riefen dazu auf, solange weiterzustreiken, bis die Armee abgezogen sei. Kommandant Sonderegger verbot (entgegen dem Wunsch des Regierungsrates) eine Kundgebung auf dem Fraumünsterplatz zur Feier der russischen Revolution und liess den Platz mit Schüssen in die Luft räumen, als trotzdem DemonstrantInnen auftauchten.

VertreterInnen des Oltener Komitees verhandelten derweil mit dem Bundesrat über den Abzug der Truppen aus Zürich, hatten jedoch keinen Erfolg. Aus diesem Grund wurde für den 11. November, 12.00 Uhr nachts, ein vorerst unbefristeter landesweiter Generalstreik ausgerufen. Mehr als 250'000 ArbeiterInnen, vor allem in den Industrieregionen der Deutschschweiz, folgten dem Streikaufruf, wenn vielleicht auch nicht alle ganz freiwillig, da der öffentliche Verkehr lahmgelegt war. Den Streikenden standen 95'000 Soldaten schussbereit gegenüber. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund erhielt aus 132 Orten Berichte über Streikaktivitäten. In den ländlichen Gebieten sowie in der Romandie und im Tessin war das Echo jedoch weit geringer.

Innerhalb der ArbeiterInnenbewegung machte sich ein "Rösti-Graben" bemerkbar. Das Oltener Komitee galt in der Westschweiz als deutschfreundlich. Die Wirtschaft wurde weitgehend zum Stillstand gebracht. In der Maschinen- und Metallindustrie streikten 4/5 aller Beschäftigten, viele BeamtInnen schlossen sich dem Streik ebenfalls an. Der Zugsverkehr brach zusammen, nur wenige, vom Militär bewachte Züge rollten noch. Die Post wurde von Streikposten praktisch lahmgelegt, ebenso die bürgerliche Presse. In Zürich erschien, unter militärischer Bewachung, eine Notzeitung.

Als Schattenseite dieses Informationsnotstandes erwies sich jedoch, dass es sowohl für das Streikkommitee wie auch für die Behörden enorm schwierig war, einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Das Massenmedium Radio existierte noch nicht und viele bürgerliche Zeitungen konnten nicht erscheinen. Das verhinderte zum einen teilweise eine grössere Ausbreitung des Streiks und führte auch dazu, dass die ArbeiterInnenführerInnen aufgrund erster Erfolgsmeldungen die Stärke des Streiks überschätzten. Aufgeschreckt durch diese Erfolgsmeldungen, wurden von der Regierung noch mehr Truppen aufgeboten.

Der Bundesrat verliess aus Angst vor einem Putsch das Bundeshaus und mahnte die Nation in einem Aufruf zu "Treue und Vertrauen". Zu einer eigens einberufenen Sondersitzung konnten jedoch viele Parlamentarier gar nicht erst erscheinen, da sie, weil kaum Züge fuhren, unterwegs steckenblieben. Bundesrat und Parlament erklärten sich bereit, den Forderungen der Streikenden entgegenzukommen, falls diese den Streik beenden würden und stellten sogleich ein Ultimatum: Mittwoch, den 12. November 1918. Das Streikkomitee war jedoch auf gar keinen Fall bereit, den Streik schon abzubrechen und Grimm liess verlauten, das bedeute den Bürgerkrieg. Die Arbeiterklasse werde triumphieren oder kämpfend sterben.

In den ländlichen Gegenden machte sich in der Zwischenzeit grosser Unmut über die Streikenden breit. Die Thurgauer Regierung verbot, weiterhin Milch ins rote Zürich zu liefern, Berner Bauern drohten mit einem Marsch auf Bern und in Zürich und Basel bildeten sich Bürgerwehren. In der Armee war es, entgegen der Hoffnung und den Aufrufen des Streikkommitees, nicht zu Dienstverweigerungen gekommen. Es entschied sich deshalb, angesichts der widrigen Umstände, nach einer Verlängerung des Ultimatums, in der Nacht auf den 14. November für eine bedingungslose Kapitulation.

Ein Bürgerkrieg wäre, realistisch gesehen, "ein Bürgerkrieg mit ungleichen Chancen" gewesen. Viele der Streikenden waren jedoch über dieses jähe Ende enttäuscht. Sie fühlten sich von der Streikführung verraten und waren nicht bereit, aufzugeben. In Grenchen wurden drei Uhrmacher, der jüngste von ihnen 17jährig, beim Versuch, Bahnschienen aufzureissen von Waadtländer Soldaten erschossen, mehrere weitere wurden verletzt. Während des Generalstreikes wurden insgesamt vier Menschen getötet (neben den drei Uhrmachern ein Füsilier, der bereits am 10. November während einer Grossdemonstration auf dem Zürcher Fraumünsterplatz an einer Schusswunde gestorben war).

General Wille, militärischer Verantwortlicher während des Streiks, teilte seiner Frau nichts desto trotz in einem Brief mit: "Ich bin sehr glücklich über den Erfolg. Dass das ganze Land ihn ganz alleine mir verdankt, wissen die meisten nicht und will niemand wissen. Das ist mir gleich, wenn nur die Sache erreicht ist" und ausserdem liess er sie wissen, dass er jede Nacht schlafe wie ein artiges Wickelkind, dessen einzige Lebensaufgabe verdauen sei. Zwei Tage nach Abbruch des Streiks feierte er die Niederlage der ArbeiterInnen-Bewegung mit einem Defilee in Zürich.

Von der Militärjustiz wurden über 3500 Menschen angeklagt. Streiks waren ausser für Beamte zwar nicht verboten, wohl aber "die Störung oder Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit und der verfassungsmässigen Ordnung", ausserdem wurde der Aufruf an die Soldaten, den Schiessbefehl zu verweigern, als Meuterei qualifiziert. 127 Angeklagte wurden zu Bussen verurteilt, ein Teil von ihnen auch zu Gefängnis. Viele Bahnangestellten wurden disziplinarisch bestraft. Von den 21 AnführerInnen, darunter 9 Nationalräte, wurden nur vier verurteilt, Robert Grimm (1946 übrigens Nationalratspräsident und damit höchster Schweizer) zu 6 Monaten Gefängnis.

Am 14. November 1918 sollte es nicht das letzte Mal sein, dass die Armee auf streikende ArbeiterInnen schoss. Bereits am 1. August 1919 starben in Basel fünf Menschen, zwei Männer und drei Frauen.

Die Forderungen des Generalstreiks

Eigentlich gar nicht so revolutionär (für ein heutiges Verständnis) mutet das Minimalprogramm des Generalstreiks an, bestehend aus neun Forderungen (sieben dieser Forderungen wurden erfüllt, manche fast sofort, manche erst nach Jahrzehnten).

Die Lage 1998

Die Schweiz ist, nach einer letzten grossen Streikwelle Ende des Zweiten Weltkrieges und der darauffolgenden Durchsetzung von Gesamtarbeitsverträgen, 50 Jahre lang ein Land mit einem relativen Arbeitsfrieden gewesen. Heute jedoch steht sie an einem Wendepunkt. Seit anfangs dieses Jahrzehnts haben die ArbeitnehmerInnen in diesem Land nur verloren. Zum ersten Mal seit Gründung des Bundesstaats werden soziale Errungenschaften, auch solche, die während des Generalstreiks miterstritten worden sind, rückgängig gemacht. Es werden Löhne gekürzt und Arbeitsbedingungen laufend verschlechtert. ArbeitnehmerInnen werden zunehmend nur noch als Spekuliermasse gesehen. An der Börse gewinnt nicht, wer Arbeitsplätze schafft, sondern wer sie hemmungslos abbaut. Frauen werden dabei als erste aus dem Arbeitsprozess gedrängt, "zurück in den Haushalt". Gespart wird zuallererst bei den Schwächsten, bei behinderten Menschen, bei den Alten, den Jugendlichen, bei Alleinerziehenden, bei Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, bei Flüchtlingen, bei Arbeitslosen, ...

Der Streik von 1918 war eine breit unterstützte und getragene Gegenwehr gegen die herrschenden Verhältnisse, gegen Marginalisierung, Ausbeutung und soziale Not. Mehr als eine Viertelmillion Menschen war für ihre Rechte auf die Strasse gegangen oder zumindest ohne Rücksicht auf Konsequenzen der Arbeit ferngeblieben.

Und heute ... ?

Was wäre wohl die Organisationsform für den "Widerstand von unten" für das Jahr 1998? Ein neuer Generalstreik? Vielleicht. Nur: Wer sollte diesen Streik beginnen, wer ihn tragen? Wer sollte in Zeiten der Bequemlichkeit, der zunehmenden Entsolidarisierung und Entpolitisierung die ArbeitnehmerInnen mobilisieren, von denen viele die Zeichen der Zeit gar nicht erkannt haben oder die Schuld für die sozialen Missstände nicht etwa in der Wirtschaft suchen, sondern, einem verheerenden Sündenbockdenken verhaftet, bei anderen, den AusländerInnen beispielsweise? Wer also? Eine gewerkschaftliche oder parlamentarische Linke, wie damals vor 80 Jahren? Wohl kaum! Die Gewerkschaften und linken Parteien sind pragmatisch geworden und träge, peinlich darauf bedacht, nicht mit allzu radikalen Forderungen potentielle WählerInnen zu erschrecken. Ein grosser Teil der ArbeitnehmerInnen wählt zudem schon lange nicht mehr links oder orientiert sich an linken Inhalten, sondern eilt in Scharen den Rechtsaussenpartein mit ihren einfachen Antworten und Rezepten zu. Wem also sollte es gelingen, sie aus ihrem Tiefschlaf zu wecken und für mehr soziale Gerechtigkeit auf die Strasse zu bringen...?

Bea

Zuletzt geändert am 24. Juni 2005. Copyright 1997, 2008 by 🌍 Verein KulturZentrum Bremgarten KuZeB  🌍 Kire www.kire.ch  info@kuzeb.ch oder konzerte@kuzeb.ch

schutthalde.ch ♧ 2002-2023
letztmals geändert am 05.09.2023